Kritische Interventionen in der Ausstellung »Kant und die offenen Fragen« (Bundeskunsthalle, Bonn)
Zu ausgewählten Exponaten der Ausstellung »Immanuel Kant und die offenen Fragen« (Bundeskunsthalle, Bonn, vom 24.11.2023–17.3.2024) haben wir philosophisch-kritische Informationen und Kommentare erarbeitet. Eine »reine Feier der Klassiker« scheint uns – auch im Fall Immanuel Kants – nicht angemessen. Die Werke Kants und der Aufklärung sind teilweise von rassistischen, sexistischen und antijüdischen Ideologien geprägt. Mitunter sind solche Ideologien noch heute in unserer Kultur und in unserem Denken wirksam.
Zu diesem ambivalenten Erbe unserer Tradition müssen wir uns daher – ganz im Sinne der Kantischen Aufforderung zum Selbstdenken – kritisch verhalten.
Unser Anspruch ist es, die Besucher*innen über diese Ambivalenzen zu informieren, sie auf etablierte Klischees aufmerksam zu machen und zu Diskussionen der folgenden Fragen anzuregen: Wie sollen wir mit diesem ambivalenten Erbe umgehen? Wie soll unsere Tradition in der Öffentlichkeit dargestellt und diskutiert werden?
Unsere »kritischen Perspektiven« finden Sie nicht im Katalog zur Ausstellung. Wir möchten die Beiträge daher in der Form eines digitalen »Rundgangs« zugänglich machen und Ihnen die Möglichkeit zu einer »Nachlese« geben. Die folgenden Abschnitte sind entsprechend des Aufbaus der Ausstellung gegliedert.
Eine Übersicht zur öffentlichen Diskussion der Ausstellung finden Sie wiederum hier.
Eingangsbereich
Einführung: Kant und die Aufklärung
Immanuel Kant ist ein bedeutender Philosoph der europäischen Aufklärung. Zu seinen einflussreichsten Hauptwerken gehören die Kritik der reinen Vernunft (1781), die Kritik der praktischen Vernunft (1788) und die Kritik der Urteilskraft (1790). Mit »Kritik« ist hier nicht vorrangig ein Zurückweisen und Bemängeln gemeint, sondern eine prüfende Beurteilung des menschlichen Erkenntnisvermögens. Die kantische Kritik untersucht unsere Urteile über die Welt, über das Gute und das Schöne – und zwar daraufhin, ob sie für alle gelten können, kurz: ob sie vernünftig sind.
Dabei sucht Kant Antworten auf folgende Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? Die 4. Frage – Was ist der Mensch? – umfasst die ersten drei. Diese Fragen strukturieren auch den Ausstellungsrundgang, der gleichzeitig Kants Lebens- und Denkweg nachzeichnet. Sein Denken wird dabei auch in den gesellschaftlichen Debatten und Konstellationen der Aufklärung verortet.
Innerhalb der Aufklärung kämpfen konkurrierende Bewegungen gegen Vorurteile, Aberglauben oder Bevormundung und für Selbstdenken, für gleiche Rechte, Freiheiten und Zugänge zur Öffentlichkeit.
So erstrebenswert diese Forderungen im Allgemeinen auch erscheinen mögen – sie haben nicht nur Gutes und Vernünftiges in die Welt gebracht. Heute müssen wir uns mit einem ambivalenten Erbe auseinandersetzen, das uns Kant und die Aufklärung hinterlassen haben, und das bedeutet: Wir müssen uns selbst über die Aufklärung aufklären.
Was kann ich wissen?
Was ist Aufklärung? – Aufklärungen im Kontext
Der Aufsatz Was ist Aufklärung? (1784) zählt zu Kants berühmtesten populären Schriften. Damit beteiligt er sich an einer öffentlichen Debatte, die der Pfarrer Johann Friedrich Zöllner in der Berlinischen Monatsschrift mit der gleichlautenden Frage angeregt hatte. Kant ist weder der erste noch der einzige, der sich dazu äußert. Unmittelbar vor ihm hat sich der Philosoph Moses Mendelssohn (1729‒1786) zu Wort gemeldet. Mendelssohn, der »Berliner Sokrates«, ist ein Vorkämpfer der jüdischen und europäischen Aufklärung und eine bedeutende intellektuelle und moralische Instanz jener Zeit.
In der Folge dieser Debatte wird auch darüber diskutiert, wer überhaupt aufgeklärt werden kann (auch Frauen?) und welche Personengruppen (auch Juden?) Teil einer aufgeklärten Gesellschaft sein können. Diese öffentliche Diskussion wird in Zeitschriften ausgetragen und zeigt, wie umkämpft die Ideen der Aufklärung in der damaligen Gesellschaft waren.
Johann Friedrich Zöllner (1753–1804)
»Die Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit sollte doch wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!«
(Fußnote aus J. F. Zöllner, Ist es rathsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu lancieren?, in: Berlinische Monatsschrift 2 (1783), S. 508–516, hier: S. 516)
Moses Mendelssohn (1729–1786)
»Je mehr der gesellige Zustand eines Volks durch Kunst und Fleiß mit der Bestimmung des Menschen in Harmonie gebracht worden; desto mehr Bildung hat dieses Volk.
Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung. Jene scheint mehr auf das Praktische zu gehen:[…] Aufklärung hingegen scheinet sich mehr auf das Theoretische zu beziehen. Auf vernünftige Erkenntniß (objekt.) und Fertigkeit (subj.) zum vernünftigen Nachdenken, über Dinge des menschlichen Lebens, nach Maaßgebung ihrer Wichtigkeit und ihres Einflusses in die Bestimmung des Menschen. […]
[Zu Kultur und Aufklärung:] Je edler in ihrer Blüte: desto abscheulicher in ihrer Verwesung und Verderbtheit. Mißbrauch der Aufklärung schwächt das moralische Gefühl, führt zu Hartsinn, Egoismus, Irreligion, und Anarchie. Misbrauch der Kultur erzeuget Ueppigkeit, Gleißnerei, Weichlichkeit, Aberglauben, und Sklaverei. Wo Aufklärung und Kultur mit gleichen Schritten fortgehen; da sind sie sich einander die besten Verwahrungsmittel wider die Korruption. […]«
(Moses Mendelssohn, Ueber die Frage: was heißt aufklären?, in Berlinische Monatschrift 1784 /4 (neuntes Stück), S. 193–200, hier: S. 194 u. 199)
Immanuel Kant (1724–1804)
»AUFKLÄRUNG ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. […] Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten.
[…] Daß aber ein Publikum sich selbst aufklären, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. […]
Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. […] Der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf. […]«
(Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift 1784 / 4 (zwölftes Stück), S. 481–494, hier: S. 481, 483, 494)
Gespräch mit Prof. Dr. Frederek Musall (Würzburg)
Die »Anderen« in Reiseberichten
Kant informierte sich intensiv über die geographischen und kulturellen Verhältnisse verschiedener Gesellschaften. Keineswegs alle Reisebeschreibungen, die Kant zur Verfügung standen, waren Berichte aus erster Hand und die meisten waren auch keine neutralen Beschreibungen. Viele Reiseberichte des 18. Jahrhunderts sind aus dem Standpunkt einer angemaßten Überlegenheit heraus verfasst und voller Herabwürdigungen und Abwertungen. Sie geben damit mehr über Sichtweisen und Vorurteile der Beschreibenden zu erkennen als über die jeweils dargestellten Menschen und Gesellschaften.
In seinen Arbeiten greift Kant direkt oder indirekte auf eine Reihe solcher Quellen zurück und übernimmt deren stereotypisierte Beschreibungen. Es gab zu seiner Zeit aber durchaus anerkennende Berichte über andere Völker. Aus ihnen hätte Kant auch schöpfen können …
George Louis Le Clerc Comte de Buffon (1707–1788)
über die »Neuholländer«:
»Die Einwohner von Neuholland, welche unter 16 Gr. 15 Min. südlicher Breite und südwärts von der Insel Timor liegt, sind vielleicht die elendesten Leute von der Welt, und Menschen, welche dem Viehe am nächsten kommen.«
(George Louis Le Clerc Comte de Buffons, Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besondern Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königs von Frankreich. Mit einer Vorrede Herrn Doctor Albrecht von Haller, […] Hamburg/Leipzig 1750–1781, S. 252)
Louis Antoine de Bougainville (1729–1811)
über die »Feuerländer«:
Bougainville benannte die Einwohner Feuerlands nach dem Grußwort, das sie ausriefen:
»Wir nannten sie Pecherais, weil diß das erste Wort war, das sie von sich hören ließen, und beständig wiederholten, wie die Patagons ihr Chaua.« (S. 120)
»Unter allen Wilden, die ich in meinem Leben gesehen, leben die Pecherais am schlechtesten und wildesten, oder was man im eigentlichsten Verstande // im Stande der Natur nennen kann« (S. 127–128)
(Louis Antoine de Bougainville, Reise um die Welt welche mit der Fregatte la Boudeuse in den Jahren 1766, 1767, 1768 und 1769 gemacht worden. Aus dem Französischen. Leipzig bey Caspar Fritsch, 1772)
Johann Reinhold Forster (1729–1798) und Georg Forster (1754–1794)
über die »Feuerländer«:
»Ueberhaupt war ihr Charakter die seltsamste Mischung von Dummheit, Gleichgültigkeit und Unthätigkeit!«
»Dem Thiere näher und mithin unglückseliger kann aber wohl kein Mensch seyn, als derjenige, dem es, bey der unangenehmsten körperlichen Empfindung von Kälte und Blöße, gleichwohl so sehr an Verstand und Ueberlegung fehlt, daß // er kein Mittel zu ersinnen weiß, sich dagegen zu schützen?«
(Johann Reinhold Forster’s und seines Sohnes Georg Forster’s Reise um die Welt, nachgeschrieben und herausgegeben von dessen Sohn und Reisegefährten Bd. 2, Berlin 1780, S. 393)
James Cook (1728–1779)
über den Mythos der »Menschenfresser«:
»Dieser Besuch verschafte uns zufälligerweise, und ohne alle vorhergegangene Frage, eine neue Gelegenheit, und beynahe vollständig zu überzeugen, daß die Einwohner dieser Inselgruppe Menschenfresser sind.«
(James Cook, Captain Cook’s dritte und letzte Reise oder Geschichte einer Entdeckungsreise nach dem stillen Ocean, … Dritter Band, Ansbach 1789, Eintrag vom 1778, Januar, S. 125)
Albrecht von Haller (1708–1777)
über »Faulheit« und »Indolenz«:
»Wir finden überhaupt die Einwohner südlicher Länder faul, geil, grausam und verrähterisch: Gegen den Pol nehmen diese Laster immer mehr ab, und die äußersten Theile gegen den Nordpol finden mit solchen Völckern vom Eiß Cap bis zur Wagerbys bewohnt, die fast ohne Leidenschafften sind.«
(Albrecht v. Haller, Sammlung neuer und merkwürdiger Reisen (1750) [aus der Vorrede; unpaginiert])
David Cranz (1723–1777)
über die »Nordländer«:
»Die Grönländer sind keine ungezogene, farouche, wilde, barbarische oder grausame Menschen, sondern ein sanftes, stilles, sittsames und in dem eigentlichen Sinn des Worts frommes, … gutes Volk«
(David Cranz, Historie von Grönland, 1765, S. 238)
Was soll ich tun?
Kategorischer Imperativ global
Immanuel Kant beansprucht, mit dem Kategorischen Imperativ ein allgemeines Moralgesetz formuliert zu haben. Dieses soll den Maßstab bilden, nach dem alle Menschen zu allen Zeiten ihr Handeln beurteilen können.
Auch in anderen Kulturen und Epochen sucht man nach allgemeinen Prinzipien der Moral und stellt verbindliche ethische Grundsätze auf. Diese setzen mitunter andere Schwerpunkte und legen mehr Gewicht etwa auf zwischenmenschliche Beziehungen – wie zum Beispiel die Lehre des Konfuzius.
Konfuzianismus
»Zi-gong fragte den Konfuzius: ›Gibt es ein Wort, das ein ganzes Leben lang als Richtschnur des Handelns dienen kann?‹ Konfuzius antwortete: ›Das ist gegenseitige Rücksichtnahme. Was man mir nicht antun soll, will ich auch nicht anderen Menschen zufügen.‹«
Auch diese von Konfuzius formulierte »Richtschnur des Handelns« soll eine für alle Menschen und Handlungssituationen gültige Orientierung geben. Im Unterschied zum Kategorischen Imperativ wird diese Regel aber über eine Verallgemeinerung der eigenen Ziele und Interessen gebildet.
Auch hinsichtlich der Unterscheidung von Moral und Nutzenkalkül finden sich Gemeinsamkeiten: Ähnlich wie die Kantische Forderung, man solle »aus Pflicht« handeln, verlangt der Konfuzianismus, dass das Gute unabhängig von erwarteten Vorteilen getan werden soll: »Der Edle strebt danach das Richtige zu tun, auch wenn niemand zuschaut.«
Ethik der Ma‘at
»Handle stets so, daß du das Netz des Füreinander-Handelns nicht zerreißt!«
Mit diesen Worten fasst der Ägyptologe Jan Assmann die altägyptische Ethik der Ma‘at zusammen. Wie der Kategorische Imperativ richtet sie sich gegen rücksichtsloses und selbstbezogenes Handeln.
Diese Ethik fordert von den Einzelnen, sich bewusst zu machen, dass sie in eine Gemeinschaft eingebunden sind: Handlungen sind auf einander bezogen und von einander abhängig. Die Regeln des Ma‘at fordern, dieses »Netz des Füreinander-Handelns« zu erhalten. Jeder und jede soll sich den Ansprüchen Anderer öffnen und versuchen, dem Vertrauen gerecht zu werden, das in ihn und in sie gesetzt wird. Nur so können Gemeinsinn und gegenseitige Solidarität erhalten werden.
Ethik des Ubuntu
»Ich bin, weil wir sind.«
Insbesondere im südlichen Afrika ist das Konzept des Ubuntu verbreitet. Es beschreibt eine ethische Orientierung und Praxis, die von der Achtung der Würde aller menschlichen Wesen getragen ist. Im Mittelpunkt steht die Idee der Verbundenheit menschlichen Handelns und Lebens. Unser Wohlbefinden und unser Glück hängen von der Unterstützung und der Solidarität anderer ab. Aus dieser Verbundenheit erwächst eine Verantwortung: daher werden in dieser Ethik insbesondere Mitgefühl und gegenseitiges Wohlwollen, Selbstlosigkeit und Freigiebigkeit wertgeschätzt. In der Kritik des Rassismus und der Ungleichverteilung des Reichtums wird in postkolonialen Diskussionen auf diese Ethik Bezug genommen.
Universalismus für Alle?
Die Idee des Universalismus fordert, vernünftige Aussagen allgemein zu begründen. Mit dieser Forderung nach Allgemeingültigkeit wendete sich die Aufklärung kritisch gegen Herrschaftsansprüche und die Interessendurchsetzung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen (wie z.B. des Klerus und des Adels). Allerdings können die Forderungen nach einer universalen Vernunft und Moral nicht nur befreiend wirken. Sie werden repressiv, wenn die Vorstellungen von vernünftigem Handeln, einem rechtschaffenen Leben und sittlichen Werten lediglich den Überzeugungen einer bestimmten Gruppe entsprechen. Zur Zeit der Aufklärung wurden die Werte der europäischen Kultur häufig zum Maßstab der Vernünftigkeit für alle erhoben. Unter diesem Maßstab betrachtete man dann andere Völker und Gemeinschaften als »rückständig«, »wild« und »unzivilisiert« und rechtfertigte koloniale Gewaltakte. Diese Abwertungen konterkarieren den Universalismus der Aufklärung und werden heute zu Recht als eurozentristisch, patriarchal und rassistisch kritisiert.
Was darf ich hoffen?
Kant und die Frauen
Ab 1786 etablierte Immanuel Kant eine eigene Tischgesellschaft. Diesem illustren Zirkel gehörten ausschließlich Männer an. Dabei hätte es in Königsberg und der weiteren Umgebung an interessanten und gebildeten Frauen nicht gefehlt. Einige von ihnen wären einer Einladung des Philosophen sicherlich gern nachgekommen.
Die öffentliche Diskussion über die sogenannte Frauenfrage (»Querelle des femmes«) war damals bereits im Gang – Kant hätte sich (nicht nur) anlässlich eines Mittagessens davon überzeugen können, dass das vermeintlich nur »schöne Geschlecht« auch denken kann und durchaus streitbar ist.
1. Philippine Freiin von Knigge (1774–1841)
wurde von ihrem Vater, dem Schriftsteller und Aufklärer Adolph Freiherr von Knigge in Naturwissenschaften und Sprachen unterrichtet. Sie verfasste mit 15 Jahren die Schrift Versuch einer Logic für Frauenzimmer (1789).
2. Mary Wollstonecraft (1759–1797)
war eine englische Frauenrechtlerin, Philosophin, Schriftstellerin und Übersetzerin. Ihre bekannteste Schrift ist Die Verteidigung der Frauenrechte (1792), in der sie sich insbesondere für den Zugang zu Bildung für Frauen einsetzt.
3. Olympe de Gouges (1748–1793)
war eine Revolutionärin und Frauenrechtlerin. 1791 verfasste sie die Erklärung der Rechte von Frau und Bürgerin und forderte Frauen auf, Philosophie und die Ideen der Aufklärung zu studieren. Sie wurde während der Terrorherrschaft der Jakobiner auf der Guillotine hingerichtet.
4. Sophie von La Roche (1730–1807)
war eine deutsche Salonnière und Schriftstellerin. Sie war eine der ersten Herausgeberinnen einer Frauenzeitschrift (Pomona für Teutschlands Töchter, 1783/84).
5. Elisabeth Staegemann (1761–1835)
lebte in Königsberg und Berlin. Sie war unter anderem als Malerin und Schriftstellerin tätig. In ihrem posthum veröffentlichten Briefroman Erinnerungen für edle Frauen (1846) entwickelt sie Überlegungen zu Fragen der Kultur und der Bildung, des Geschmacks, aber auch der Freundschaft und der Liebe.
6. Sophie Charlotte Ackermann (1714–1792)
ging nach der Trennung von ihrem ersten Mann als Schauspielerin zum Theater. 1751 gründete ihr zweiter Mann in Königsberg die sogenannte »Ackermannsche Truppe« – eine Schauspielgruppe, mit der sie in vielen Städten (Berlin, Hamburg, Danzig und Königsberg) gastierte. Sie hätte Schwung in die Bude gebracht.
7. Caroline Charlotte Amalie von Keyserling (1727–1791)
lebte in und um Königsberg. Sie war Ehrenmitglied der Königlichen Preußischen Akademie der Künste zu Berlin und bekannt für ihre Bildung in Literatur und Wissenschaften. Sie übersetzte wissenschaftliche Werke ins Französische und veröffentlichte auch selbst anonyme Beiträge in Zeitschriften. Kant unterrichtete zeitweise ihre beiden Söhne und war oft zu Gast im »Musenhof der Keyserlings«. Er hätte sich für die Einladungen revanchieren können…
8. Caroline Lucretia Herschel (1750–1848)
war ausgebildete Sängerin und Astronomin. Aufgenommen in die Forschungsgruppe ihres Bruders Friedrich Wilhelm Herschel entdeckte sie unter anderem acht Kometen und wurde für ihre wissenschaftlichen Leistungen geehrt.
Koloniale Verstrickungen. Kants Investitionen in Zuckeraktien
Seit dem 16. Jahrhundert stieg der Zuckerkonsum in Europa stetig an. Zucker war zunächst als Heilmittel und zur Konservierung von Nahrungsmitteln, später vor allem als Süßmittel für Speisen und Getränken begehrt. Wer sich das teure Handelsgut leisten konnte, demonstrierte damit seinen gehobenen sozialen Status. Im 18. Jahrhundert wurde Rohrzucker überwiegend von Sklaven unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen angebaut und – vor allem aus Westafrika, Südamerika und der Karibik – nach Europa verschifft. Europäische Raffinerien verarbeiteten das Rohprodukt und vertrieben den veredelten, weißen Zucker mit großem Gewinn als sogenannte »Kolonialware«.
Bereits Denis Diderot (1713–1784) und Bernardin de Saint-Pierre (1737–1814) lehnten den Zuckerkonsum als überflüssigen Luxus ab. Sie kritisierten den mit der Zuckerindustrie verbundenen Sklavenhandel und die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen auf den Plantagen.
Nach seinem Tod hinterließ Kant rund ein Drittel seines Vermögens in Aktien der »Königsberger Zuckerraffinerie«.
Fortschrittsdenken und Rassismus
Die europäische Aufklärung forderte die Gleichheit aller Menschen, wertete aber trotzdem andere Ethnien und Völker ab. Viele Aufklärer versuchten diesen Widerspruch durch eine zum Besseren fortschreitende Geschichte aufzulösen.
Darin wurden andere Kulturen und Völker an den europäischen militärischen, technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften gemessen und zu sogenannten »Kindheitsstadien« der Zivilisation herabgewürdigt. Auch Immanuel Kant bezeichnete – mit Bezug auf zeitgenössische Reisebeschreibungen – außereuropäische Völker als »noch unzivilisierte«, »angehende Menschen«. Deutlich andere Perspektiven nahmen dagegen Augenzeugenberichte ein. Sie hoben die Kulturleistungen der indigenen Einwohner*innen Afrikas (Peter Kolb, 1675–1726) und Nordamerikas (Joseph-François Lafitau, 1681–1746) hervor oder betonten die Überlegenheit des Justizwesens der Khoikhoi in Afrika (Johann Heinrich Gottlob Justi, 1717–1771) oder des Königreichs Siam (Simon de La Loubère, 1643–1729).
Textstellen und ihr Kontext
Lesen Sie Ausschnitte des Zitats auf der rechten Seite, indem sie die Fenster aufklappen (+). Wie verändert sich Ihr Leseeindruck und Ihre Deutung je nach Kontext?
Die Anekdote entnimmt Kant aus den folgenden Quellen:
Anonymus, Neuere Geschichte der Chineser, Japaner, Indianer, Persianer, Türken, und Russen, 1759, S. 447.
Johann Daniel und Friedrich Samuel Spieker, Sphinx Oedipus. Räthsel mit und ohne Auflösung, 1781, S. 108–09.
Die Anekdote zeigt, wie rassistische Stereotype und koloniale Sichtweisen in Kants Gegenwart präsent und wirkmächtig waren. Je nachdem, in welchem Kontext man das Zitat liest, verschiebt sich allerdings sein Sinn.
»Wenn jemand erzählt:
daß ein Indianer, der an der Tafel eines Engländers in Surate* eine Bouteille mit Ale öffnen und alles dies Bier, in Schaum verwandelt, herausdringen sah, mit vielen Ausrufungen seine große Verwunderung anzeigte, und auf die Frage des Engländers: was ist denn hier sich so sehr zu verwundern? antwortete: Ich wundere mich auch nicht darüber, daß es herausgeht, sondern wie ihrs habt hereinkriegen können; so lachen wir, und es macht uns eine herzliche Lust:
nicht, weil wir uns etwa klüger finden als diesen Unwissenden, oder sonst über etwas, was uns der Verstand hierin Wohlgefälliges bemerken ließe; sondern unsre Erwartung war gespannt, und verschwindet plötzlich in nichts.«
* Surate (heute: Surat) ist eine Stadt in Indien, nördlich von Mumbai im heutigen indischen Bundesstaat Gujarat gelegen. Nach der Landung mit dem Schiff im August 1608 baute die English East India Company dort bis 1687 ihren Hauptstützpunkt auf und legte damit den Grundstein für die koloniale Expansion.
(Kant, Kritik der Urteilskraft, AA 05: 333)
Kant über Judentum und »Mohammedanism«
Judentum
»Der jüdische Glaube ist seiner ursprünglichen Einrichtung nach ein Inbegriff bloß statuarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war; […] Das letztere [das Judentum] ist eigentlich gar keine Religion, sondern bloß Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besondern Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter bloß politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten«
(Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA 06: 125)
»Mohammedanism«
»Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen … Dieses Gebot allein kann den Enthusiasm erklären, den das jüdische Volk in seiner gesitteten Epoche für seine Religion fühlte, … oder denjenigen Stolz, den der Mohammedanism einflößt.«
(Kant, Kritik der Urteilskraft, AA 5: 365)
»Der Mohammedanism unterscheidet sich durch Stolz, weil er statt der Wunder, an den Siegen und der Unterjochung vieler Völker die Bestätigung seines Glaubens findet, und seine Andachtsgebräuche alle von der muthigen Art sind.«
(Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA 6: 184)
Kommentar zu »Mohammedanism«
Der von Kant positiv erwähnte Stolz der mohammedanischen Religion wird auch in zeitgenössischen Reiseberichten beschrieben. Kenntnisse über den Islam bezog Kant auch aus Adrian Relands Zwey Bücher von der türckischen oder mohammedischen Religion (1716). Reland hebt das Verbot der Anbetung von Götzenbildern im Islam würdigend hervor, bietet eine detaillierte Darstellung der religiösen Rituale, widmet große Teile aber auch der religiösen Rechtfertigung des »Krieges gegen die Ungläubigen«. Auf den damit verbundenen Stolz nimmt Kant in abschätziger Weise Bezug.
Kant, die Juden und das Judentum
Immanuel Kant stand mit vielen jüdischen Intellektuellen seiner Zeit in engem fachlichen und persönlichen Austausch. Seine Hochschätzung für Moses Mendelssohn, Baruch Spinoza und andere jüdische Gelehrte und Kaufleute ist vielfach dokumentiert. Mit seinem Schüler Marcus Herz verband ihn zeitlebens eine enge Freundschaft. Trotz dieser persönlichen Beziehungen äußerte sich Kant mehrfach abwertend über »die Juden«. In seinen Schriften reproduzierte er fest etablierte zeitgenössische Vorurteile wie zum Beispiel das über den vermeintlich »jüdischen Wuchergeist«.
In seiner Religionsphilosophie kritisiert Kant die Institutionen des Christentums wie des Judentums und fordert, beide sollten in einer universell aufgeklärten »Vernunftreligion« aufgehen. Dem Judentum steht er dabei mit deutlicheren Vorbehalten gegenüber und bezeichnet es als »überkommen«. Seiner Auffassung nach verlange es keine moralisch gute Gesinnung, sondern gründe sich auf bloß »äußerlich einzuhaltende« Gesetze.
Kant und sein Portrait
Anlässlich dieses Portraits, das der jüdische Maler Johann Michael Loewe angefertigt hat, ärgert sich Kant in einem Brief an Carl Leonhard Reinhold über die »jüdische« Darstellung seiner Nase:
»Das von Hrn Loewe, einem jüdischen Maler, ohne meine Einwilligung ausgefertigte Portrait, soll, wie meine Freunde sagen, zwar einen Grad Ähnlichkeit mit mir haben, aber ein guter Kenner von Mahlereyen sagte beym ersten Anblick: ein Iude mahlt immer wiederum einen Iuden; wovon er den Zug an der Nase setzt: Doch hievon genug.« (12.05.1789)
(Kant, Briefwechsel, AA 11: 33)
Was ist der Mensch?
Fortschritt (-skritik) und wir
Die Vorstellung von einem stetigen Fortschritt der Menschheitsgeschichte ist eine zentrale Idee der Aufklärung: Die wissenschaftliche und technische Weiterentwicklung ermöglicht die Beherrschung der Natur; die zunehmende Vorherrschaft der Vernunft führt zur »Zivilisierung« und einer größeren Freiheit der Menschheit. Das ist die eine Seite der Erzählung.
Ihre Kehrseite ist, dass dieser »Fortschritt« in Europa mit Kolonisierung, Versklavung, Ausbeutung und Ausgrenzung von »Anderen« verbunden war. Bis heute wirkt diese Idee des Fortschritts in unser Denken und in unseren Sprachgebrauch hinein. Zum Beispiel, wenn wir uns in Redewendungen wie »Das ist ja wie im Mittelalter!« über »das Vergangene« oder »die Anderen« selbstgewiss erheben. Deshalb sollten wir uns ganz im Sinne der aufklärerischen Selbstkritik fragen: Welche Vorurteile prägen unser Denken heute?
Kant: Vorlesungen Menschenkunde
»Wenn sich ein Volk auf keine Weise in Jahrhunderten vervollkommnet, so ist anzunehmen, daß es schon in ihm eine gewisse Naturanlage giebt, welche zu übersteigen es nicht fähig ist.«
(Kant, Vorlesungen Menschenkunde (1781/1782), AA 25: 1181)
Kant: Vorlesungen zur Anthropologie
»Wir finden Völcker, die in der Vollkommenheit der menschlichen Natur nicht fortzuschreiten scheinen, sondern einen Stillstand gemacht haben, da andere, als in Europa immer fortschreiten«
(Kant, Vorlesungen zur Anthropologie (1777/1778), AA: 25: 840)
Kant: Vorlesungen zur Anthropologie
»Wenn die Europaer nicht America entdeckt hätten, so würden die Americaner in ihrem Zustande geblieben seyn. Und wir glauben, sie werden auch jetzt zu Keiner Vollkommenheit gelangen, denn es scheint sie werden alle ausgerottet werden, nicht durch Mordthat, das wäre grausam! sondern sie werden aussterben.«
(Kant, Vorlesungen zur Anthropologie (1777 /1778), AA 25: 840)
Das ambivalente Erbe der Aufklärung
Immanuel Kants Philosophie und die europäische Aufklärung haben viel Licht in die Welt gebracht. Ihre Ideen wirken bis heute nach – im Grundgesetz, im Selbstverständnis von demokratischen Gesellschaften, als Bezugspunkt emanzipatorischer Bewegungen. Aber sie haben auch ihre Schattenseiten. Von Beginn an war das auf den Fortschritt der Menschheit angelegte Projekt eng mit Gewaltherrschaft und Repression verflochten.
Die Aufklärung steht nicht nur für die allgemeinen Ideen von Freiheit und Kosmopolitismus. Die Emanzipation und Befreiung der einen wird mit Hilfe von Versklavung und Ausbeutung der anderen durchgesetzt. Damit hinterlässt uns die Aufklärung ein ambivalentes Erbe. Ihre Widersprüche sind bis heute wirksam und sollten uns daher Anlass für weitere Diskussionen sein: Was kann Aufklärung heute bedeuten?