Warum Darstellungen von Kraken keine unproblematischen Exponate sind …

Die Ausstellung »Kant und die offenen Fragen« bietet auch einen Virtual-Reality Zugang zum Thema. Die Besucher*innen können darin in das Königsberg eintauchen, wie es zu Lebzeiten Kants ausgesehen haben mag. In der ersten Abteilung der Ausstellung (»Was kann ich wissen?«) zeigt eine Virtual-Reality (VR)-Station, wie ein Handelsschiff die Hafenstadt Königsberg verlässt und aus der Tiefe des Meeres von einem Riesenkraken angegriffen wird. Die alten mythischen Erzählungen über Riesenkraken und Meeresungeheuer, das sogenannte »Seemannsgarn« der Seeleute, bilden den Bezug für diese Darstellung. Die VR-Station führt die Besucher*innen von den Geschichten der Seemänner zur berühmten »Enzyklopädie des Wissens« von d’Alembert und Diderot: Die Existenz angreifender Riesenkraken wird auf diese Weise als bloßer Aberglaube enttarnt – die Aufklärung siegt über den Mythos.

Die Darstellung mag vielen Besucher*innen auf den ersten Blick unproblematisch erscheinen; ihre beabsichtigte Bedeutung ist durch den narrativen Kontext explizit bestimmt. Als weitere Assoziationen stellen sich bei manchen Betrachter:innen vielleicht bekannte Abenteuerfilme ein (Fluch der Karibik (2003), 20.000 Meilen unter dem Meer (1954) etc.). Doch das Bild des Riesenkraken, der einen Gegenstand bedrohlich umschlingt, wird auch unabhängig von diesen Kontexten benutzt und kann mit anderen, problematischen Bedeutungen in Verbindung gebracht werden. So versuchen (überwiegend) antisemitische Karikaturen mit diesem Motiv ihre Ideologie einer vorgeblich allmächtigen, jüdischen »Weltherrschaft« zu visualisieren.1

Die bedrohlich inszenierte Kraken-Sequenz der VR-Welt kann – auch gegen die Intention der Ausstellungmacher*innen – aus dem Zusammenhang der aufklärerischen Aberglaubenskritik gelöst werden. Mit der Sequenz der VR-Welt wird in der Ausstellung einmal mehr die gefährliche und beunruhigende Wirkung des Krakenmotivs ins Bild gesetzt; doch gerade diese Ikonographie benutzt die antisemitische Tiermetaphorik, um eine vermeintlich verborgene jüdische Gefahr zu beschwören, die angeblich in alle Lebensbereiche der Weltgesellschaft reicht. Unter Rückgriff auf diese Tradition judenfeindlicher Bildpropaganda kann die effektvolle Darstellung der VR-Welt auch gedeutet werden. Die Bildpropaganda mit judenfeindlichen Krakenmotiven ist kein Phänomen nur der Vergangenheit. Es wird aktuell insbesondere in den Sozialen Medien wieder vielfach zur Hetze gegen Jüdi:nnen eingesetzt.

Unser Forschungsprojekt befasst sich mit dem rassistischen, sexistischen und antisemitischen Erbe in der Philosophie und den damit verbundenen Diskursen. Uns ist es ein Anliegen, auf diese Deutungsmöglichkeit, auf mögliche Interpretationsspielräume sowie nichtintendierte Wirkungen von Bildern und sprachlichen Ausdrücken hinzuweisen. Wir haben der Bundeskunsthalle geraten, die VR-Station mit dem Riesenkraken nicht in die Ausstellung aufzunehmen. Die daraufhin in der Ausstellung angebrachte Kommentierung und Distanzierung auf einer Informationstafel am Exponat ist fraglos wünschenswert. Ein entscheidender Nachteil aber bleibt: Die bedrohliche Darstellung des Kraken ruft die antisemitische Bedeutung wieder ins gesellschaftliche Gedächtnis und reproduziert sie damit.

  1. Vgl. Amadeu Antonio Stiftung (Hg.): deconstruct antisemitism! Antisemitische Codes und Metaphern erkennen, https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2021/11/210922_aas_broschuere-da-105x148_web_doppelseiten.pdf (Zuletzt besucht am 21.11.2023). ↩︎